In meiner Hand halte ich eine Packung Zigaretten. Nein, ich rauche nicht. Ich hebe sie nur für einen Freund auf. Sie ist noch fast voll. Ich habe sie entdeckt, als ich mein Auto vom Ruhrgebiet nach Hause gefahren habe. Seitdem liegt sie bei mir und ich warte darauf, dass sie abgeholt wird.
Erstaunlich, fast liebevoll schweift mein Blick auf diese Packung. Ich möchte wirklich keine Werbung für Zigaretten zu machen. Vielmehr verbinde ich mit dieser Packung eine bestimmte Person und mit dieser Person sehr viele Erinnerungen. Erinnerungen, die ich nicht missen möchte. Es sind Erlebnisse, die mich sehr geprägt haben.
Ja, ich habe mich in diesem Jahr, seitdem wir uns kennen, auch verändert. Ich bin gewachsen, gereift und jünger geworden.
Jünger geworden? Ja, jünger. Das klingt paradox, aber wenn ihr weiter lest, werdet ihr es verstehen. Ich war sehr erwachsen, weniger weil ich es wollte, vielmehr weil ich es musste. Meine Vergangenheit hat mein Leben bestimmt. Ich war Gefangene meiner selbst.
Ich weiß nicht, wie frei ich jetzt bin, auf jeden Fall freier als vor einem Jahr. Ich wusste nicht, wieviel man in einem Jahr erleben kann, wieviel Erinnerungen wach werden können. Aber ich weiß, dass in einem Jahr ein ganzes Leben aufgearbeitet werden kann.
Ich habe niemals zuvor zu einem Menschen so viel Vertrauen gehabt wie zu dieser Person. Was mich daran so erstaunt, ist die Tatsache, dass ich die Person, nennen wir ihn "Ed", nicht leiden konnte, als ich ihn bei Himmlisch-Plaudern kennen lernte. Ich mochte ihn Anfangs überhaupt nicht, mit seiner etwas frechen Art. Er kam einfach in den Chat und beschwerte sich darüber, dass ich ihn nicht begrüßen würde.
Ich dachte mir damals, boah, ist hier neu und spielt sich auf, na das kann ich leiden. Von da an begrüßte ich ihn extra auffällig, damit er es ja nicht übersieht. Jedesmal wenn er in den Chat kam, dachte ich, der schon wieder. "HALLO ED", schrieb ich in den Chat, damit er "seine" Begrüßung ja nicht übersieht. Ich muss es wirklich zugeben, ich konnte ihn nicht leiden. Ich mochte viele aus dem Chat, aber ihn? Nein, er war wie ein rotes Tuch für mich. Jeder Tag ohne ihn im Chat, war ein Geschenk. Ich machte mir aber komischerweise Sorgen, wenn er Abends noch mal mit seiner Maschine raus fuhr und es regnete. Es regnete in diesen Tagen sehr oft. Ich merkte, irgendetwas beschäftigte ihn. Aber was? Hatte ich ein Recht ihn zu fragen was los ist? Immerhin konnte ich ihn nicht leiden.
Ich sah mir sein Profil an. Wow, irgendwie hübsch, dachte ich. Zwar nicht im klassischem Sinn, aber er hat etwas. Seine Haare, wie er sie trug, gefielen mir auf Anhieb. Aber seine Art im Chat und seine Fotos auf seinem Profil schienen nicht zu einander zu passen.
Irgendwann kam wieder so ein Abend. Er fuhr mit seiner Maschine raus. Es war mieses Wetter, das schrieb er vorher noch im Chat. An diesem Abend änderte sich einiges für mich. Ich hatte schon öfters vorher gemerkt, wenn jemand in den Chat kommen würde, der schreibt, dass Ed bei einer seiner Motoradtouren ums Leben gekommen sei, würde ich zusammenbrechen. Ich kannte ihn nicht. Ich wusste von ihm nur das bisschen, was ich im Chat von ihm gelesen hatte. Mehr aber auch nicht. Woher kam dieses Gefühl? Woher kam das Gefühl, dass ich mich um eine wildfremde Person Sorgen machte?
Ich konnte es mir überhaupt nicht erklären. Aber diese Gefühle waren einfach da. An diesem Abend war es besonders schlimm. Ich machte mir richtig Sorgen. Es wurde später und später. Meine Sorge um ihn wuchs ins Bodenlose. Ich chattete mit Leuten, bat sie mit mir wach zu bleiben, was sie erstaunlicherweise auch taten und wartete. Ich wartete, dass endlich der Nick "Ed" im Chat wieder auftauchte. Mittlerweile war es halb eins Nachts geworden. Immer noch nichts. Wenn ich doch wenigstens eine Telefonnummer hätte. Ich überlegte sogar, ob irgendjemand, der auf seiner Freundesliste stand, seine Tefefonnummer hatte. Ich schaute also wer von ihnen um diese Zeit noch online war. Ja, es gab noch jemanden, der online war. Ich schrieb ihr eine Mail, in der ich fragte, ob sie eventuell seine Telefonnummer hat. Gerade, als ich die Mail abgeschickt hatte, kam er in den Chat. Ich habe noch nie in meinem Leben zuvor so viel Erleichterung gespürt, wie in diesem Augenblick. Schnell zog ich die Mail wieder zurück, damit sich die Person, die ich in meiner Verzweiflung angeschrieben hatte, sich nicht Sorgen machte. So schnell es ging, flüsterte ich Ed an. "Mach das nie wieder!" schrieb ich ihm. "Was soll ich nie wieder machen?". Klar, er war erstaunt, wäre ich sicherlich auch gewesen an seiner Stelle. Ich hab vor dem Chat gesessen und vor Erleichterung einfach los geweint.
Ich hab ihn dann gebeten, dass er noch mal in den Chat kommt, immer wenn er abends noch mal raus fährt. Von da an hat er es auch immer getan. Langsam haben wir uns immer mehr unterhalten. Belangloses oder tiefere Gespräche, es war eine Mischung aus beidem und mehr und mehr fing ich an ihn zu mögen. Immer öfter kam es nun vor, dass wir die letzten im Chat waren. Zum Abschied stellte er immer den gleichen Link rein. Er wusste, welche Musik ich mochte und obwohl wir nur Freunde waren, hatten wir ein gemeinsames Lied: "Amsterdam" von Cora. Es war unser Lied, die ganze Zeit schon, obwohl wir nur Freunde waren. Ich war mir ziemlich sicher, es ist etwas einmaliges. Gewöhnlicherweise haben nur Paare ein Lied. Eine Woche lang hörten wir nichts anderes. Es war abends das lezte Lied, was wir hörten und morgens das erste. Es war einfach irre.
Ich war in der Zeit auch noch mit jemand anderem sehr eng befreundet. Während unserer Freundschaft musste er in eine Klinik. Ich wollte ihm einen Brief schreiben. Der Chat lief nebenbei und weil ich nicht richtig wusste, was ich schreiben soll, schrieb ich in den Chat, dass ich einen Brief schreibe und Ed fragte mich, ob ich ihm auch einen schreiben könnte. "Ja,klar", schrieb ich in den Chat, "schick mir mal deine Addy". Er tat es, ohne damit zu rechnen, das ich ihn jemals eine Brief schreiben würde. Aber er irrte sich gewaltig. Ich schrieb ihm einen Brief. Ich hielt ihn so allgemein wie möglich, schrieb aber trozdem auch persönlich. Ich nahm mir viel Zeit für den Brief. Es war mir einfach wichtig.
So fing eine wunderbare Freundschaft an. Wir fingen an zu telefonieren und verabredeten uns im Chat zu unseren ersten Treffen. Nach unserem ersten Treffen, wusste ich, das ich ihn wiedersehen möchte. Von da an telefonierten wir sehr viel miteinander. Zehn Stunden pro Tag waren keine Seltenheit.
Nach und nach erzählte ich ihm alles aus meiner Vergangenheit und er erzählte mir seine. Wir haben viel zusammen gelacht und auch geweint. Es gehörte irgendwie beides zusammen. Freude und Leid sind oft nah beieinander. Es wuchs ein imenses Vertrauen, auf beiden Seiten. Irgendwann schrieb er in den Chat: "ICH LIEBE DICH!" Puh, wow, das muste ich erst einmal verarbeiten. So öffentlich hatte noch nie jemand eine Liebeserklärung gemacht. Hatte bis dahin überhaupt irgendjemand eine Liebeserklärung an mich gemacht? Ich erinnere mich nicht. Wieder flossen bei mir die Tränen, aber diesmal vor Rührung.
Innerhalb eines Jahres kamen bei mir so viele Erinnerungen hoch. Ich verarbeitete mit ihm einfach alles. Meine Jugend, meine Ehe und zwei weitere zerbrochene Beziehungen. Nie zu vor hatte ich im Leben so viel aus meinem Leben erzählt. Ich denke, es gibt niemanden, der mich besser kennt als Ed.
In diesem Jahr habe ich so viel gelernt. Ich habe gelernt, zu mir zu stehen, aufzuhören mich zu verleugnen und das auszusprechen, was ich mag und was ich mir wünsche. Ich bin endlich frei geworden von falschen Vorstellungen. Ich habe mich mein Leben lang versteckt und habe das Leben gelebt, was andere von mir erwartet haben. Durch seine unbefangene Art bin ich viel lockerer geworden. Ich habe mich selbst entdeckt, traue mich Sachen zu tragen, wovon ich früher nur geträumt habe, sie anzuziehen. Ich höre die Musik, die ich schon mit siebzehn gehört habe und wo ich mir eingestehen muss, dass ich sie immer noch mag.
Die Leute, die nicht wussten, das ich total auf " Die toten Hosen" stehe, denken, dass ich es erst jetzt entdeckt habe. Aber ich habe sie immer gemocht. Nur lebe ich es jetzt und verstecke es nicht mehr. Das mit der Musik ist nur ein kleiner Teil von dem, was ich vorher von meinem "ICH" verleugnet habe. Nun wirke ich, dadurch, dass ich lebe, was ich bin, jünger. Es war ein langer Prozess, aber er hat sich gelohnt.
Nur leider war die psychische Belastung für Ed zu groß. Ich weiß nicht, ob unsere Liebe daran dauerhaft zerbrochen ist oder ob sie eines Tages zurück kommen wird. Ich bete jeden Tag dafür, dass Gott sie wieder herstellt. Solange, und drüber hinaus, entdecke und entwickele ich mich weiter.
Ich habe einmal, ganz am Anfang unsere Beziehung zu Ed gesagt: " ich weiß nicht wohin uns der Weg führt, aber lass ihn uns gemeinsam gehen."
Ich bin immer noch bereit, diesen Weg mit ihn gemeinsam weiter zu gehen, auch wenn sein Weg zur Zeit ein anderer ist.
An jenem Tage wird dein Mund aufgetan werden, sodass du reden kannst und nicht mehr stumm bist.
Hesekiel 24,27
Wieder halte ich die Packung Zigaretten in der Hand, lass meinen Blick noch einmal liebevoll drüber schweifen und lege sie wieder beiseite an dem Platz, wo sie vorher lag. Dort wird sie so lange liegen, bis ein guter, vielleicht mein bester Freund, sie wieder abholt.
Yildis